Aus Wurmlingens Vergangenheit
Orts- und Kirchengeschichtliche Streiflichter
von Dieter Manz, Rottenburg am Neckar
Wenn er von Rottenburg nach Tübinen wille, so ziehe ein rüstiger Wanderer, der eine Freude an der Natur hat und zugleich ein Verehrer der Romantik ist, die Tour über Wurmlingen und die Wurmlinger Kapelle unbedingt vor, weil man da eine wunderschöne Aussicht genießt. Zwischen Rottenburg und Tübingen zieht sich nämlich ein ziemlich hoher Bergrücken hin, der das Neckarthal von dem Ammerthal scheidet, und an diesen Bergrücken lehnt sich das Dorf Wurmlingen, während die Kapelle gleichen Namens weithin sichtbar seine höchste Spitze krönt. Beide sind uralt, denn das Dorf, in welchem dereinstens zwei Burgen standen, kommt schon in den Urkunden des 11. Jahrhundert vor und die Kapelle wurde ums Jahr 1050 von einem frommen Grafen Anselm v. Calw unter ganz eigenthümlichen Bestimmungen gestiftet. Theodor Griesinger 1866
Die ältesten Spuren menschlicher Anwesenheit, Keramikfunde am Nordhang des Kapellenbergs, datieren aus der Hallstattzeit (etwa 800 bis 5. Jahrhundert v. Chr.). Bronzene Armringe aus einem Grab sowie Siedlungsreste am Fuß des Pfaffenberges gehören der La-Téne-Zeit oder Keltenzeit an, die etwa vom 5. vorchristlichen Jahrhundert bis in die Zeit um Christi Geburt gerechnet wird.
Aus der darauffolgenden Römerzeit (bis etwa 260 n. Chr.) liegen keine gesicherten Funde vor; der römische Ursprung des mit Werksteinen durchsetzten Bauschuttes in den "Gehrnäckern" südwestlich des Dorfes ist nicht mit Bestimmtheit nachweisbart. Die wichtige römische Straßenverbindung Rottenburg-Köngen-Cannstatt führte westlich des Ortes über Wurmlinger Markung. In der Flur "Dreispitz", 1,2 km nördlich von Wurmlingen, zweigte eine weitere wichtige römische Staatsstraße von ihr ab, nämlich die unter Umgehung des Schwarzwaldes angelegte Verbindung zum Oberrheintal. Nach Ansicht der Experten folgt der "Viehweg" Wurmlingen-Pfäffingen genau dem Verlauf dieser gegen den Kraichgau ziehenden Straße.
Die Ortsnamenendung -ingen und die Existenz zweier Reihengräberfriedhöfe ("Auf der Höhe") nordöstlich des Ortes in der Gabelung der Wege nach Unterjesingen und Pfäffingen; in der Flur "Mühlsteig" im Süden zwischen der alten und neuen Straße nach Rottenburg nördlich des Arbachs) deuten darauf hin, dass Wurmlingen in der frühesten Besiedlungsphase der Alemannenzeit (um 500 n. Chr.; die Reihengräber evtl. erst aus dem 7. Jahrhundert) gegründet wurde. Auch der Grundriss einer früheren Kirche auf dem Wurmlinger Berg, 1963 freigelegt, weist in die Zeit vor 1100, aus der die Krypta der Bergkapelle stammt und wo Wurmlingen bereits seinem heutigen Namen im Hirsauer Codex genannt ist.
Von altersher gehörte Wurmlingen zur Grafschaft Hohenberg. Die frühesten, noch vereinzelten urkundlichen Hinweise darauf datieren aus den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts; ihre Zahl vermehrt sich von der Mitte des 14. Jahrhunderts an sehr stark. Mit Rottenburg, der hohenbergischen Hauptstadt, verband den Ort von Anfang an also nicht nur die geographische Nähe, sondern auch die politisch-staatliche Zusammengehörigkeit. Diese Verbindungen äußerten sich naturgemäß in engen wirtschaftlichen und familären Verbindungen.
Mit den übrigen hohenbergischen Orten teilte Wurmlingen fortan das Schicksal der Stadt Rottenburg. Im Jahr 1381 verkaufte Graf Rudolf III von Hohenberg seine gesamte Grafschaft an Herzog Leopold III von Österreich. Wurmlingen war damit ein Teil jenes ausgedehnten, aber flächenmäßig stark zerstückelten Territoriums geworden, das in späteren Jahrhunderten den Namen "Schwäbisch-Österreich" bekam. Österreichisch blieben die Wurmlinger nun 425 Jahre lang.
Das Ende der österreichischen Zeit kam auch für Wurmlingen im Januar 1806, als die ganze Grafschaft Hohenberg als Folge des Preßburger Friedens von 1805 an das neue Königkreich Württemberg abgetreten werden musste. Die Verbindungen zur Nachbarstadt Rottenburg brachen dadurch nicht ab, denn der Ort wurde Teil des neugeschaffenen württembergischen Oberamts Rottenburg; nach dessen Auflösung 1938 kam sein Bezirk größtenteils zum Kreis Tübingen. Die jahrhundertealten Verbindungen Wurmlingens zu seiner Nachbarstadt waren auch von Bedeutung, als sich der Ort im Verlauf der Gemeinde- und Verwaltungsreform 1971 für die Eingemeindung nach Rottenburg entschied.
Zwei weitere Faktoren bestimmten in den vergangenen Jahrhunderten neben der sozusagen staatspolitschen Komponente die Geschicke Wurmlingens, Adel und Kirche.
Beginnen wir beim Adel. Als ältester urkundlich belegter Vertreter des Ortsadels gilt der um 1100 erwähnte Hirsauer Klosterbruder Heinrich von Wurmlingen. Sein Geschlecht verzweigte sich im 13. Jahrhundert in mehrere Linien, die alle dasselbe Wappen führten, den Lindwurm auf dem Dreiberg. Dieses Wappenbild ist ins heutige Ortswappen übernommen worden; es basiert auf der mit dem Ortsnamen zusammenhängenden Volkssage von einem am Kapellenberg hausenden Drachens.
Bekanntester Zweig des Wurmlinger Ortsadelsgeschlechts, das in den Diensten des Grafen von Hohenberg, der Grafen von Zollern und der Pfalzgrafen von Tübingen stand, sind die Märhelt. Sie waren seit 1292 in Rottenburg ansäßig und gewannen in den ersten Jahrhunderten der Stadtgeschichte bis zum Erlöschen der Familien im Jahr 1519 erhebliche Bedeutung als herrschaftliche Stadtschultheißen, als Bürgermeister und Richter. Das Rottenburger "Wagenlehen" (Flurname beim Heuberg) gehörte den Märhelt; 1427 besaßen sie ein Haus vor dem Kiebinger Tor auf dem Stadtgraben; bereits ein Jahr früher wird ein weiteres Haus ei der Marktkirche (Dom) als den Märhelt gehörig bezeichnet. An der linken Seitenwand der Annakapelle in der Rottenburger St. Moritzkirche erinnert noch heute ein schönes Steinrelief mit dem Wappen der Märhelt an die Zeit, da sich das Erbbegräbnis dieses Wurmlinger Geschlechts in der Rottenburger Kirche befand, zu der die Familie stets ein besonderes Verhältnis hatte.
Die ab 1252 genannten Brüder Eberhard, Walter, Reinhard und Konrad von Wurmlingen gehören nicht dem Wurmlinger Ortsadel (dem "Lindwurmgeschlecht"), sondern einem Zweig der im 13. Jahrhundert sozial ins Dienstmannenverhältnis abgestiegenen Edelfreien von Calw, deren Familie mit der Entstehung des Wurmlinger Jahrtags eng verflochten ist. Konrad war Kanoniker in Sindelfingen und ist als Geschichtsschreiber (Verfasser der Annales Sindelfingensis) bis heute von Bedeutung geblieben.
Auf Wohnsitze dieser Familien deuten an verschiedenen Stellen der Wurmlinger Markung Flurnamen wie "Wandelburg" und "Bresteneck", das vom Geschlecht der Amann von Wurmlingen erbaut und bewohnt wurde. Um 1400 trat der mit dem Amann stammesverwandte Heinrich von Stahler zusammen mit Fritz von Wurmlingen als erster Lehensinhaber der "Veste" auf, eines Wasserschlosses, das beim Gasthaus "Rößle" stand. In späterer Zeit waren Lehensträger der Veste die Herren von Ow, die Megenzer von Felldorf, die Freiherren von Hohenberg und die von Rost. Im Jahr 1762 fiel das Lehen an Österreich zurück; es umfasste damals das Schloss mit dem Wassergraben und Damm, den inneren Garten und den großen Schlossgarten, in dem ein Hau ("Rößle") und eine Scheuer standen, ferner 100 Morgen Ackerland, 13 Morgen Wiesen und 7 Morgen Weinberge. Im ersten Band seiner Rottenburger Chronik weiß Christoph Lutz von Lutzenhardt im Jahr 1609 zu berichten, dass das Schloss "in einem schönen Weiher und Wassergraben steht" und denen von Ow 150 Jahre gehört habe. Sie hätten es dann den Megenzen verkauft, "wie dann in dieser Zeit (1609) Georg Dietrich Megenzer von Felldorf dasselbe in Besitz hat", dass es aber ein lehen des Hauses Österreich sei - "das Dorf aber gehört in das Amt Rottenburg der Herrschaft Hohenberg". Die Megenzer hatten, was wenig bekannt ist, in der Bricciuskapelle im Dorf ihre Begräbnisstätte. Nach dem Bericht des Chronisten Lutz hingen im Chor die Epitaphien des 1481 verstorbenen Georg Megenzer von Felldorf sowie des von Philipp Megenzer, der 1540 starb, und seiner Ehefrau, einer geborenden von Fürst.
Noch in einem anderen Bereich dominierte eindeutig der Adel, als Ortsherrschaft. Österreich als Landesherrschaft verpfändete im Lauf der Jahrhunderte recht häufig das Dorf oder einzelne Rechte. So kam Wurmlingen 1385 an Marquart von Hailfingen; 1394 war Benz von Bochingen Pfandherr. Österreich löste den Besitz kurz nach 1400 wieder ein, verpfändete jedoch die herrschaftlichen Wingefälle an Volkhart von Ow. Erzherzog Albrecht setzte 1455 Wurmlingen und Hirschau als Pfand für die Morgengabe für seine Gemahlin Mechthild ein; 1483 löste Herzog Sigmund die beiden Orte wieder aus. Im Jahr 1660 wurde Wurmlingen erneut verpfändet, diesmal an den Freiherrn Sigmund von Hohenberg. Die Pfandschaft ging 1738 an den Freiherrn Johann Ruppert von Rassler über; bei beiden Verpfändungen blieb das Megenzer Lehen ausgenommen. Erst 1762 brachte Österreich die Pfandsumme auf, um den Ort wieder und diesmal endgültig einzulösen.
Wie der Adel war auch die Kirche von erheblicher Bedeutung für das geschichtliche Bild Wurmlingens. Dem "Wurmlinger Jahrtag", der herausragenden kirchlichen Feierlichkeit im Jahreslauf früherer Zeiten, ist ein eigener Beitrag gewidmet.
Wurmlingen gehörte seit altersher zum Bistum Konstanz und wurde nach dessen Auflösung der seit 1828 bestehenden Diözese Rottenburg zugeteilt. Die Pfarrei ist Bestandteil des Landkapitels Rottenburg.
Bischof Ulrich II von Konstanz, der sich 1127 im Rottenburger Raum aufhielt, dürfte in diesem Jahr die Remigiuskirchen in Wurmlingen und Rottenburg-Ehingen als verspätete Ausstattungsgüte dem Kloster Kreuzlingen zugewiesen haben. Die Pfarrkirche auf dem Berg und die zu ihrer Ausstattung gehörenden Güter verblieben von da an bis 1804 den Chorherren des Augustinerklosters Kreuzlingen bei Konstanz. Den umfangreichen Kreuzlinger Besitzkomplex in der Gegend - u. a. gehörte ein Haus und ein Hof in Rottenburg dazu, ferner Zinsleute, Güter und Einkünfte in Hemmendorf, Hirrlingen, Hirschau, Kiebingen, Weiler und Wendelsheim - verwaltete zuerst einer der beiden Augustiner-Chorherren, die nben der Bergkirche in einer Art Zelle nach ihrer Ordensregel lebten. Im Jahr 1429 übernahm ein eigener Klosterbeamter (Pfleger) die Verwaltungsgeschäfte; bis 1703 hatte er seinen Sitz in Wurmlingen, von da an in Rottenburg. Das Verwaltungsgebäude, den "Kreuzlinger Hof" in der Rottenburger Königstraße, einen stattlichen Barockbau von 1736, kenn wohl jeder Wurmlinger. In württembergischer Zeit (nach 1825 bis zur Auflösung des Oberamts Rottenburg 1938) diente das Gebäude als Sitz der Oberamtsbehörden; heute ist die Station der Landespolizei darin untergebracht.
Als eigentliche Pfarrkirche Wurmlingens, in die auch Hirschau eingepfarrt war, ist die Bergkapelle des heiligen Remigius überliefert. Daneben befand sich im Ort eine dem heiligen Briccius geweihte Kapelle. Seit dem 16. Jahrhundert besuchten die Wurmlinger wegen des mühevollen Wegs zur Pfarrkirche auf dem Berg immer häufiger die Gottesdienste in der Bricciuskapelle. Als 1563 die beiden Kreuzlinger Augustinerpatres das Pfarrhaus auf dem Berg verließen, fanden die Gottesdienste von da an ständig in der Kapelle im Dorf, der heutigen Pfarrkirche, statt. Grund für den Auszug der Patres war die Baufälligkeit der Gebäude auf dem Berg, zu deren Wiederherstellung die Einkünfte der Bricciuskaplanei dienen sollten.
Auf dem Berg wurde im Dreißigjährigen Krieg eine Hochwacht eingerichtet. Durch Unachtsamkeit der Wachmannschaft fiel die Kapelle im März 1644 einem Brand zum Opfer. Mit der Wiederherstellung des zuvor nur mit einem Notdach versehenen Kirchengebäudes wurde erst 1680 begonnen; die Weihe des heutigen Gotteshauses auf dem Berg konnte sechs Jahre später durch den aus Rottenburg stammenden Konstanzer Weihbischof Georg Sigismund Müller vorgenommen werden - die Gestalt des heiligen Remigius im Hochaltarbild der Kapelle trägt seine Porträtzüge. Trotz dieser Erneuerung der Kapelle fanden die Gottesdienste weiterhin im Dorf statt.
In die damals schon längere Zeit bestehende Bricciuskapelle im Dorf stifteten 1466 Hans von Ow, Schultheiß, Richter und Gemeinde eine Frühmesskaplanei, deren Priester vom Kloster Kreuzlingen bestellt wurden. Der jeweilige Kaplan hatte die Pflicht, in der Kapelle sechs Messen zu lesen und daneben bei der Seelsorge auf dem Berg zu helfen. Die Wurmlinger waren verpflichtet, an den Sonntagen und den vier Hauptfesten die Pfarrkirche auf dem Berg zu benützen, die für die Gemeiknde immer unattraktiver wurde. Auch als 1563 die Kapelle im Dorf der Bergkirche inkorporiert worden war und nachdem von 1565 an die Remigiuskirche auf dem Berg renoviert wurde, blieb die Bricciuskapelle de facto Pfarrkirche von Wurmlingen. Die offizielle Verlegung der Pfarrei und der Gottesdienste vom Berg ins Dorf geschah jedoch erst 1775. Von da an sollte nur noch der Calwer Jahrtag und die Begräbnismessen in der Bergkirche abgehalten werden. 1963 wurde die Bergkapelle grundlegend unter dem damaligen Ortspfarrer Dr. Kruschina renoviert. Seit der Renovierung findet in den Sommermonaten sonntags eine heilige Messe statt.
Das Kloster Kreuzlingen war bis 1803 Träger der Kirchenpflege in Wurmlingen, bis 1806 Österreich als dessen Rechtsnachfolger. Im Jahr 1806 trat dann Württemberg, der neue Landesherr, in die österreichischen Rechte und Baulastpflichten ein. Infolge der Pfründenausscheidung von 1858 fiel das Patronat der Pfarrei der bischöflichen Kollatur anheim. Letzter Kreuzlinger Ortspfarrer in Wurmlingen war von 1797 bis 1816 P. Paul Frey aus Kempten.
Die alte Bricciuskapelle wurde 1817 wegen Baufälligkeit geschlossen; die Gottesdienste fanden dann eine Zeitlang im Freien statt und bis zum Neubau der heutigen Pfarrkirche 1820/21 in einer Scheuer. Der jetzige Kirchenbau, der unter Verwendung des kräftigen Turms der spätgotischen Kapelle entstand, ist ein Werk des Baumeisters Josef Pfeiffer. Johann Bapt. von Keller, damaliger Generalvikar und späterer erster Bischof von Rottenburg, gab ihm die kirchliche Weihe.
"Luftig wie ein leichter Kahn, auf des Hügels grüner Welle" schien die Bergkapelle vor anderthalb Jahrhunderten dem Dichter Nikolaus Lenau "lächelnd himmelan" zu schweben, während Ludwig Uhland sie "still ins Thal hinab" schauen lileß - in der Vertonung von Conradin Kreutzer sind seine unvergänglichen Verse zum weitbekannten Volkslied geworden.
Durch das Wort der Dichter erlangte Wurmlingens Bergkapelle Berühmtheit weit über Deutschlands Grenzen hinaus. Was aber das Wirken geschichtlicher Kräfte in längst vergangenen Menschenaltern an Dorf und Bergkapelle bewegte, hat nie einen so wortmächtigen Schilderer gefunden. Nur ein paar trockene Jahreszahlen lassen vielleicht etwas von dem erahnen, was hinter ihnen stand, als sie noch lebendige Gegenwart waren. Etwas davon, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, versuchte dieser Beitrag sichtbar werden zu lassen.